ufWüsch 25 – 4. September 2021

 

Aus der Schreibstube von Heinz dem Älteren aus dem Aargau

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 Die Geschichte von Annelies

 

…erzählt von Heinz dem Älteren (XVII und Schluss)

 

 

«Partir, c’est toujours mourir un peu.» Annelies sucht nach ihren Habseligkeiten. Ein trister Nebel liegt über dem Schloss. Es ist ruhig. Still und friedlich. Sie schaut auf den Vorplatz hinunter. Rolf fährt los, Brot holen. Seine morgendliche Tour zum Bäcker. Gerade mal 5 Uhr durch. Nach ihm kann man seine Uhr stellen. Sie mag Rolf. Seine Zuverlässigkeit schätzt sie. Auf ihn kann man sich verlassen. Das fehlt Annelies in ihrem Leben. Leute, auf die sie sich verlassen kann. Blind verlassen. So wie auf Rolf. Annelies packt ihre Reisetasche. T-Shirts, Jeans – viel ist es nicht. Ihr Zug fährt schon bald. Karl bringt sie mit der Vespa zum Bahnhof.

 

Der stinkige Dieseltriebwagen der SNCF schiebt sich durchs Tal. Er ist gut besetzt. Schülerinnen und Schüler, die ins Collège in die Bezirkshauptstadt müssen. Frauen, Männer auf dem Weg zur Arbeit – ins nächste Dorf, in die nächste Stadt. Es geht geradeaus, immer nur geradeaus. Leute steigen aus. Leute steigen ein. Annelies fährt bis Aix. Von dort über Lyon nach Genf. Und dann nach Zürich. Keine vier Stunden und sie ist zuhause. Zuhause? «Wo bitte ist mein Zuhause?»

 

Sie trägt ein T-Shirt auf dem steht «Sur le pont d’Avignon, on y danse!» Wäcki hat es ihr geschenkt, als sie zusammen nach Avignon gefahren sind. Zum Theaterfestival eigentlich. Wäcki aber hat sich mehr für den lebhaften Märt interessiert. Auch gut. Und auch Kultur. Mittendrin unter den Einheimischen, statt mit den Touristen nur dabei. Der Städtebummel lässt Fragen offen – man sieht nur, was man kennt –, und die beiden kennen nicht viel.

 

Es setzt sich einer neben Annelies, obwohl mehrere Plätze im Regionalbummler noch frei sind. Sie kennt ihn. Es ist Pierre. Sieger im Schloss-Pétanque-Turnier und Le Pen-Anhänger. Die weissen Haare, der Mittelscheitel, die gedrungene Gestalt – sie rückt zur Seite. Er quatscht auf sie ein. Sie versteht nichts. Will nichts verstehen. Umsteigen – zum Glück! Der Schnellzug nach Lyon steht auf Perron 5 zur Abfahrt bereit.

 

«Und sie zogen…» Die stolzen Schlossmauern bröckeln. Bohlen kommen zum Vorschein. Uraltes Holz. Aber fest und trocken. Geformt zum Teil, geradeso als bildeten sie einen Schiffsrumpf. Immer mehr Steine brechen heraus. Die Konturen eines mächtigen Kahns werden sichtbar. Dicke Planken zeigen sich. Das Ganze erinnert an die Santa Maria, die dreimastige Karacke, das Flaggschiff, mit der Kolumbus Amerika entdeckt hat.

 

Die Räder schlagen regelmässig. Annelies schaut aus dem Fenster. Ein Buch liegt auf ihrem Schoss – Marcel Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». Kaum mehr Passagiere im Abteil. Sie geniesst die vorbeiziehende Landschaft. Es zeigen sich Hügel. Ab und zu fährt der Zug durch einen Tunnel. Kleinere Bahnhöfe, deren Namen sie nicht lesen kann, fliegen vorbei. Lyon ist nicht mehr weit. 

 

Eine Hälfte des alten Kahns liegt nun völlig frei. Wurde das Schiff als Konstruktionsskelett gebraucht, damals, als das Schloss gebaut wurde? Im 16. Jahrhundert immerhin. Aber wer transportiert diesen Riesenkahn ins Landesinnere, um ihn dann einzumauern? Das macht keinen Sinn. Weitere Steine fallen. Ohne Getöse und ohne lautes Krachen. Das Schiff macht sich frei. Entpuppt sich. Der Cocon bricht auf. Plötzlich wird klar, was die drei hohen, schlanken Kamine auf dem Schloss, mit denen nie jemand was anzufangen wusste, zu bedeuten haben: in ihnen stecken die Masten. 

 

«Und sie zogen die Anker in die Höh, …» Roberto und Walti nehmen sich der Sache an. Sie holen eine lange Leiter, lehnen diese an Schiff, steigen hoch und über die Reling aufs Deck. Sie prüfen die Festigkeit der Planken. Nichts Morsches. Alles fest und sicher. Karl zieht nach. Zu Dritt durchstöbern sie den Prachtskahn. Sie finden die Kombüse in tadellosem Zustand. Alles an seinem Platz. Die Kajüten scheinen unbenutzt. Die Messe aufgeräumt. Die Drei sind sich einig: «Dieses Schiff ist nie zur See gefahren!»

 

Annelies kommt in Lyon-Perrache an. Ihr Anschluss nach Genf fährt ab Lyon-Part-Dieu. Sie leistet sich ein Taxi. Sie geniesst die Fahrt durchs hektische Lyon.

 

Mittlerweilen sind alle an Bord. Kurt steht auf der Brücke. Er staunt über die Instrumente. Hans staunt mit: «Nichts Nautisches. Das sind Instrumente, die man zum Fliegen braucht.» 

«Was zum Fliegen? Ihr seid mir noch Habasche!», sagt Wäcki und stösst die beiden zur Seite. Aber! Auch er staunt: «Tatsächlich – Höhenmeter, künstlicher Horizont.» «Und jetzt?» Diese Frage kommt von Walti. 

Roberto antwortet: «Die Wettervorhersagen sprechen von sintflutartigen Regenfällen in den kommenden Tagen. Immerhin haben wir ein Schiff.» 

«Das, wie es scheint, fliegen kann», konstatiert Karl.

 

Alles rückt näher ans Fenster. Der Blick geht nicht mehr so weit wie in der Provence. Der Zug zieht schleifen. Es wird kurviger. Das Handy meldet sich automatisch im heimischen Netz an. Wieder Nadelbäume und Buchen. Heimische Flora. Der Zug fährt in Genf ein. Zürich kommt näher.

 

«Und sie zogen die Anker in die Höh, hissten die Segel…» Der Regen prasst nieder. Dazu der Mistral. Missliche Bedingungen hier im sonst so lieblichen Süden. Kurt gibt Befehl, Esswaren an Bord zu hieven. Und Wasser, vor allem sauberes Wasser.

«Und vergesst den Wein nicht», ruft Hans dazwischen. 

Kajüten hat es ausreichend. Ein jeder bezieht sein Quartier.

Es wird immer garstiger. Der Regen legt das Schiff komplett frei. Befreit Bohlen und Planken vom Steinstaub der Schlossmauern. Der Kiel steckt noch tief in der Erde und hält das Schiff aufrecht. Die beiden Anker finden Halt im Geröll, die Ketten sind straff. Mächtige Kräfte ziehen an ihnen. Das Schiff windet sich sanft, wie ein Erwachender, der nach zeitlosem Schlaf beginnt, seine Glieder zu recken, sich streckt und versucht die Dinge zu ordnen, alles an seinen Platz zu bringen.  

 

«Wo Annelies jetzt steckt?», will Roberto wissen.

«Die ist sicher schon in der Schweiz», sagt Heinz der Ältere. «Aber Du möchtest wohl eher wissen, wo Sonja steckt?»

«Hast mich durchschaut», grinst Roberto.

 

Lausanne, Fribourg, Bern… der Intercity rast über die Geleise, durchs Mittelland, Aarau vorbei, Dietikon vorbei, der Zug verlangsamt sein Tempo, Zürich-Altstetten, Zürich-HB. Aussteigen. Ankommen. «Ankommen! Wo bitte bin ich angekommen?» Annelies schlurft mit ihren Plastiklatschen durch die Bahnhofshalle. Sie holt sich einen «Coffee to go» und ein Sandwich. Sie hängt sich ihre Tasche um, isst und trinkt im Gehen. Sie schlendert die Löwenstrasse hoch; so in allgemeiner Richtung Schimmelstrasse. Die Wohnung zeigt noch Spuren der Gämse, die einst hier gehaust haben. Stroh liegt auf dem Küchenboden. Mikesch’ Fressnapf liegt kopfüber in der Ecke. Er wohnt jetzt bei Sonja, deren Leben ist geregelter und mehr katzentauglich. Annelies sinkt aufs Sofa.

 

«Und sie zogen die Anker in die Höh, hissten die Segel bis oben an den Mast…» Der Schiffsrumpf ächzt und stöhnt. Das Wasser steigt. Kurt macht Apell: «Alle an Bord?» Alle sind an Bord (in alphabetischer Reihenfolge): Hans, Heinz der Ältere, Heinz der Jüngere, Karl, Roberto, Rolf, Wäcki und Walti.

 

Alle sitzen in der Messe. Hier ist es trocken und ruhig. Draussen ist es finstere Nacht. Es kracht am Himmel. Blitze fahren teuflisch hernieder. Das Schiff reisst an seinen Ankern. 

«Wir müssen die Anker lichten», befiehlt Kurt.

Roberto und Walti übernehmen die Aufgabe. Die Ankerwinden gehen streng. Die schweren Glieder der Eisenketten scheinen zu bersten. Ein Ruck! Der Kiel birst aus dem Fundament. Die Anker heben sich. Das Schiff liegt frei. Und steigt und steigt. Hebt sich sanft. Wiegt sich auffallend ruhig in den heftigen Fluten. «Schwere See», bemerkt Hans. Und gönnt sich ein Gläschen Branntwein. 

 

Das Wasser wird ruhiger und ruhiger. Der Kahn aber steigt und steigt. Immer höher. Er hat kaum mehr Kontakt zum Wasser. Das Schiff hebt ab. Es schwebt über dem Wasser. Immer höher, immer höher. Die Besatzung steht an der Reling und schaut gelassen in die Tiefe. «…und das Schifflein fliegt von dannen.»

 

Annelies hat sich ausgeschlafen. Es ist dunkel geworden. Sie beschliesst, einen Abendspaziergang zu machen. Es ist ruhig draussen. Kein Auto weit und breit. Kein Mensch zu sehen. Sie schaut auf die Uhr. Die Uhr zeigt – nichts. Die Zeiger fehlen. Sie schlendert dem Sihlhölzli entgegen. Geht über den sonst stark befahrenen Autobahnzubringer, schaut zurück auf die Brandwache – alles dunkel. Keine Strassenbeleuchtung brennt. 

 

Sie hat immer noch ihre Plastiklatschen an. Kein schönes Gehen auf dem Kies des Parkplatzes. Sie setzt sich auf die Steinstufen vor der Muschel. Die Platanen stehen ruhig. Kein Wind bewegt die Blätter. Auch drüben bei den Turnhallen alles dunkel. Annelies steht auf, öffnet das Absperrgitter vor der Muschel (dass es sich öffnen lässt, erstaunt sie nicht wirklich), und geht hinein. Im schäbigen Licht des Mondes erkennt sie auf dem obersten Absatz zwei kleine Figuren aus Holz – es sind die vom Hogere Sepp geschnitzten Gämse.